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Ersatzneubau
Michael Knappitsch

1.
Der Ersatzneubau beschreibt unterschiedliche Formen des Bestandsersatzes, spielt aber wohl vor allem in der städtebaulichen Nachverdichtung von Wohnbauten die größte Rolle: Abriss und Neubau eines Objektes stehen lokal und temporär in einem engen Zusammenhang, wobei der grundsätzliche Nutzungscharakter des Objektes nicht geändert wird. Das wiederum kann auch bedeuten, dass im Rahmen eines Gesamtvorhabens mehrere Objekte in Form einer Wohnanlage oder eines Ensembles als Ersatz-Neubauprojekt betrachtet werden können. Aufstockungen oder Teil-Ersatzneubauten fallen aus dieser Definition, sofern nennenswert Bausubstanz erhalten bleibt.1

2.
Aber warum wird bei dieser Art des Bestandsersatzes von Ersatzneubau gesprochen und nicht bloß von Neubau selbst? Seit jeher wurden Neubauten errichtet, wenn Bedarf daran bestand – dafür mussten auch mal Bestandsgebäude weichen. Der Annex Ersatz vermag es wohl, den ohnehin meist positiv konnotierten Neubau zusätzlich gegen Einwände zu schützen. Im Verbund scheinen diese Worte nahezu über jede Kritik erhaben. Der Neubau strotzt vor moderner technischer und energetischer Leistungsfähigkeit; der Ersatz impliziert ein besänftigendes Attribut. Ein Ersatzteil wird anstelle eines verschlissenen, defekten oder beschädigten Parts eingesetzt. Ein Ersatzspieler vertritt den Ermüdeten, sein Einsatz ist nachvollziehbar. Das Ersetzende leistet mehr als sein Vorgänger. Ersatzneubau ist besser als Bestand, keine Frage. Oder doch nicht? Betreiben Nutzer dieses Begriffs ein Whitewashing ihres Projektes, wollen sie es schönfärben um kritisches Hinterfragen zu minimieren? Der Ersatzneubau erzeugt einen Mehrwert für die Stadt, da er für den offensichtlich über-brauchten, defekten, energieverschlingenden Bestand entschädigt. Ausgezeichnet! Eine Reparatur spielt in der heute so oft proklamierten Wegwerfgesellschaft ohnehin keine erwähnenswerte Rolle mehr.
(Performanz, Abs. 6)

3.
Geprägt wurde der Begriff Ersatzneubau in der Auffassung des Bestandsersatzes um die Jahrtausendwende von Zürich ausgehend in der Schweiz, wo seit den neunziger Jahren exzessive Ballung innerhalb der Stadtgrenzen betrieben wird – erst mit der Umnutzung von Industriegebieten, später dann mit dem Ersatzneubau von genossenschaftlichen Wohngebäuden und letztendlich vor allem in zentralen hochpreisigen Lagen. Dabei wurde eine beträchtliche Nachverdichtung der Gebiete erreicht; aus einem Quadratmeter Wohnfläche entstanden statistisch nahezu drei.2 Auch in den Niederlanden war bis in den letzten Jahrzehnten der Bestandsersatz sehr verbreitet; bis zu einem Viertel des Neubaus entfielen zeitweise auf Ersatzbaumaßnahmen, die seit den 1970er Jahren parallel zur Modernisierung stattfanden.3 Im Gegensatz zur Schweiz standen in den Niederlanden allerdings nicht energetische, sondern sozialpolitische Aspekte im Vordergrund man bemühte sich um eine Verbesserung der Wohnsituation.
(Nachverdichtung, Abs. 7)




4.
Dass beim Ersatzneubau jedoch nicht zwangsläufig die Wohnsituation der Einwohner verbessert würde, belegen Beispiele der 1980er Jahre in Frankreich, bei denen 20 Jahre später die gleichen Probleme herrschten wie vorher.4 In den Banlieues an den Stadträndern, den „Bannmeilen“, stecken spätestens seit der großen Zuwanderungsperiode der Nachkriegszeit im Zuge der Industrialisierung die Ärmsten der armen Bevölkerungsschichten fest. Sie leben zu Billigstmieten, die sie sich doch kaum leisten können, in Wohnhochhäusern, die als (Ersatz)Neubauten im Sinne außerstädtischer Verdichtung hochgezogen worden sind. Das resultierte in Wellen des Protests einer verzweifelten französischen Jugend mit Migrationshintergrund: 1983 mit dem Marsch durch Frankreich, zuletzt im Herbst 2005 bei den Jugendkrawallen um Paris.5 Die Gründe? Die Jugendlichen wollen auf ihre prekäre Wohnsituation hinweisen. Das Zusammendrängen sozioökonomisch schwacher Zuwandererschichten, in künstlich durch Ersatzneubau verdichteten Vororten, verwehrt ihnen die Möglichkeit zur Integration. Fehlende Integration resultiert in Arbeitslosigkeit, die wiederum Armut zur Folge hat. Und die von Armut Betroffenen können sich, wenn überhaupt, erst wieder nur eine Wohnung in den Banlieues leisten.

5.
Beim Ersatzneubau, Bestandsersatz oder dem im Süden Österreichs bevorzugten Begriff des Reconstructing wird ein bestehendes, durchwegs domiziliertes Wohngebäude abgetragen und durch ein neues Wohngebäude an ähnlicher Stelle in ähnlicher Dimensionierung ersetzt. Ähnlich bedeutet in dieser Definition wohl Handlungsspielraum für Bauträger oder Wohnungsgenossenschaft in Hinblick auf bessere Rendite. Der Neubau kann am bestehenden Grundstück sowohl vorteilhafter repositioniert als auch effizienter ausgenutzt werden, um den Anforderungen der städtebaulichen Verdichtung Genüge zu tun – oder, um somit mehr Wohnraum für mehr zahlende Kunden zu schaffen.

6.
In Österreich wird das Thema Ersatzneubau oder Reconstructing in Fachkreisen zunehmend erörtert; gerne wird dabei mit diesen verharmlosenden Worten geworben. Einige österreichische Wohnbaugesellschaften wie die Kärntner Genossenschaft „Fortschritt“, die den Begriff Reconstructing in Österreich zu etablieren versucht, haben nach Schweizer Vorbild des Vereins „Green Building“ bereits konkrete Ersatzneubauprojekte durchgeführt. Das englische Lehnwort Reconstructing hat es sogar schon unter die „häufig nachgefragten“ Begriffe auf die Homepage des Österreichischen Verbands gemeinnütziger Bauvereinigungen geschafft. Sein modernes Auftreten als pseudoenglische Übersetzung soll wohl eine besondere Finesse des Reconstructings unterstreichen, bei dem Ersatzneubauten neben zum Abriss verurteiltem Bestand entstehen und die Mieter einer nach dem anderen fliegend in ihr neues, bestimmt viel besseres und nur wenig teureres Zuhause wechseln. Sogar die Adresse bleibt die gleiche!

7.
Vieles scheint dem allgemeinen Wohl der Kunden entgegenzukommen. Das Konzept der Kundenorientierung entstand als Strategie, mit der Organisationen umstrukturiert werden sollten, um besser auf Kundenwünsche zu reagieren. Die Qualität von Produkten, zu denen man sicherlich auch eine Wohnung rechnen darf, und Dienstleistungen, wie der Umgang des Vermieters oder der Genossenschaft mit seinen Mietern, wird nicht länger produkt- sondern kundenbezogen definiert. Man denkt sich in die Sicht der Kunden hinein, um deren Perspektive zu verstehen – der Kunde soll zufrieden und somit freiwillig gebunden werden.6 Dafür muss man als Vertreter des Ersatzneubaus unternehmerisch handeln, innovativer, wagemutiger und führungsbewusster argumentierten. Diese Vertreter sind findige Nutzer von Gewinnchancen, welche die Unsicherheiten eines ökonomischen Prozesses und Abläufe von Produktion und Vermarktung organisieren.7




8.
Die Vermarktung des Ersatzneubaus funktioniert zumeist unter Abwägung ökologischer Aspekte im Sinne der Nachhaltigkeit. Schließlich verleihe die Nachhaltigkeit Akteuren die Kraft, glaubwürdig im Namen eines allgemeinen Interesses zu sprechen.8 Warum also nicht auch im ersatzneuen Wohnbau? Nachhaltiges Wohnen wird dabei als energieeffizientes Wohnen angepriesen. Der Energiebedarf bei Ersatzneubauten befindet sich im Gegensatz zum Bestand natürlich am untersten Minimum. Und oft auch im Gegensatz zu technisch machbaren Erneuerungen im Zuge einer energetischen Sanierung. Das muss er aber auch, damit die für den Neubau aufgebrachte Graue Energie während der Nutzungsdauer amortisiert werden kann, sollte der Ersatzneubau in der energetischen Gesamtbilanz besser, sprich nachhaltiger, bilanzieren wollen als die Bestandssanierung.9
(Nachhaltiges Bauen, Abs. 2–3)

9.
Die Vermarktungsstrategien baugewerblicher Unternehmen fixieren sich gegenwärtig allesamt auf das Prädikat der Nachhaltigkeit: damit wird eine Illusion des Umweltbewusstseins generiert. Die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers beschreibt den Versuch, ein positives ökologisches Image in der Öffentlichkeit zu erreichen, als Greenwashing. Als typische Strategie hierfür nennt PricewaterhouseCoopers unter anderem die besonders trickreiche Vorgehensweise der vagen Aussage, bei der unklar definierte Begriffe verwendet werden.10 Wie zum Beispiel Ersatzneubau. Oder Reconstructing. Betreiben Wohnbaugenossenschaft, Bauunternehmer und Architekt Greenwashing, indem sie diese Begriffe im Sinne der Nachhaltigkeit verwenden? Dann werden wir von Termini wie Ersatzneubau unabwendbar noch viel öfter hören, wenn der ohnehin schon inflationäre Begriff der Nachhaltigkeit ausgedient hat.
(Green Architecture, Abs. 6)

10.
Natürlich ist der Ersatzneubau im Anwendungsfall eine Maßnahme, die Energieeffizienz zu verbessern und die Energiekosten drastisch zu reduzieren, schließlich soll er nach modernen energetischen Grundsätzen erfolgen. Raumgröße und -aufteilung können den (bestehenden) Kunden entsprechend optimal gewählt werden und als Massivbau ausgeführt auch den Bedürfnissen des Schallschutzes gerecht werden.

11.
Eine bemerkenswerte Darbietung hierfür legte der Architekt und Mitarbeiter des Energieinstituts Vorarlberg Martin Brunn ab, der das rund 150 Jahre alte elterliche Wohnhaus durch einen Plusenergie-Ersatzneubau ersetzte, indem er die Graue Energie durch strenge Nutzung regionaler Ressourcen im kleinstmöglichen Bereich beließ. Er entschied sich beim Neubau für eine strohgedämmte Holzrahmenkonstruktion mit Lehmputz und Holzschindeln, sämtliche Holzbaustoffe wurden dabei in Eigenarbeit aus dem elterlichen Waldstück gewonnen. Weiters wird das unbehandelte Abbruchholz des abgerissenen Bestandes im neuen Holzvergaser Stückholzofen thermisch verwertet. Diese vorbildhafte Vorgehensweise sollte allen, die sich pro Ersatzneubau entscheiden, ein Beispiel sein.

12.
Die Wahl zwischen Sanierung oder Ersatzneubau hängt mit Sicherheit stark von den Möglichkeiten der technischen Nachrüstung und der Grundrissgestaltung ab, vor allem aber von der Bauqualität des Bestandsgebäudes. Die weitaus wichtigere Rolle spielen dabei aber oft Rahmenbedingungen, die mit dem Gebäude selbst nur wenig zu tun haben.




13.
Die für Unternehmer und Entscheidungsträger interessanten Kalkulationen hinsichtlich einer Gewinn- oder Ausgabenanalyse erfolgt bei Ersatzneubauten bestimmt leichter als die einer tiefreichenden, energetischen Sanierung, um einen Bestandsbau auf den neuesten Stand der Technik zu bringen. Bei Baumaßnahmen im Bestand stößt man unumgänglich erst während der Bautätigkeit auf mehr oder minder weitreichende Mängel, die es zu bewerten und gegebenenfalls zu korrigieren bedarf. Prinzipiell gilt aber vermutlich die Annahme, dass der Ersatzneubau ungleich mehr Kapital benötigen wird als eine Sanierung – was natürlich wiederum von der gesamten Nutzungsdauer respektive der Lebensdauer des Gebäudes abhängt.

14.
Denn obwohl Ökologie und Ökonomie bisher als Gegensätze im Baugewerbe betrachtet wurden, liegen diese wohl nur bei kurzfristiger Betrachtungsweise weit auseinander. Vergrößert sich der Betrachtungszeitraum, nähern sich ökologische und wirtschaftliche Ziele einander an – denn beide Sparten setzen auf die Optimierung lebenszyklischer Verbräuche von Ressourcen wie Geld, Rohstoff oder Energie. Folglich zeichnet sich gute Planung sowohl durch begrenzte Errichtungskosten, als auch durch minimale Ausgaben für Nutzung und Betrieb des Gebäudes aus. Seit einigen Jahren gibt es hierzu eine standardisierte Betrachtung anhand eines Energieausweises.11 Doch die Bewertungsskala des Energieausweises in Österreich kategorisiert lediglich den Heizwärmebedarf pro Quadratmeter und Jahr. Die Graue Energie, die für Bestandsabbruch sowie Herstellung und Lieferung der Neubaumaterialen aufgebracht werden muss, ist hier nicht abgebildet.
(Energieausweis, Abs. 2, 8–10)

15.
Um Ersatzneubau einer Sanierung vorzuziehen, bedarf es akribischer Erörterung zahlreicher energetischer, sozialer und städtebaulicher Aspekte. Es sei denn, man möchte sich auf die positiven Assoziationen dieses perfiden Worthybriden verlassen.

Warum stehen hier Stühle?
Stühle und Ersatzneubauten haben einiges gemeinsam. Zu oft werden sie ausgetauscht, obwohl noch einiges aus ihnen zu machen wäre.
Für welchen Stuhl entscheidest du dich - im Sinne der Nachhaltigkeit? Im Sinne der Performanz?
Ist neu immer besser?



1 Vgl. BMVBS 2012, 11.
2 Vgl. Rey 2010, 7.
3 Vgl. BBSR 2013, 8.
4 Vgl. BBSR 2013, 11.
5 Vgl. Jelloun 2005.
6 Vgl. Voswinkel 2004, 145–148.
7 Vgl. Bröckling 2004, 272–274.
8 Vgl. Kaufmann 2004, 175, 180.
9 Vgl. BMVBS 2012, 16.
10 Vgl. PricewaterhouseCoopers 2014.
11 Vgl. Ipser 2013.

Literaturverzeichnis


BBSR Bundenministerium für Bau-, Stadt- und Raumforschung: Möglichkeiten und Grenzen des Ersatzneubaus, in: BBSR Berichte Kompakt 1 (2013)

BMVBS Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Möglichkeiten und Grenzen des Ersatzneubaus. Als Beitrag zu Energieeinsparung und Klimaschutz bei Wohngebäuden, in: Forschungen 154 (2012)

Bröckling, Ulrich: Unternehmer, in: Bröckling, Urlich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Berlin 2004, 271–276

Ipser, Christina: 100 Jahre Lebenszyklus – In der Theorie!, in: Der Standard, 18./19./20.05.2013

Jelloun, Ben: Verbrannte Erde. Denn Sie wissen, was sie tun: Warum junge Franzosen auf die Barrikaden gehen, in: Die Zeit, 10.11.2005

Kaufmann, Stefan: Nachhaltigkeit, in: Bröckling, Urlich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Berlin 2004, 174–181

PricewaterhouseCoopers, 10/2012: Vorsicht, Greenwashing: Konsumenten blicken hinter die grüne Fassade, http://www.pwc.de/de/nachhaltigkeit/vorsicht-greenwashing-konsumenten-blicken-hinter-die-gruene-fassade.jhtml, in: Nachhaltigkeit, http://www.pwc.de/de/nachhaltigkeit/themen_nachhaltigkeit.jhtml (Stand: 10.11.2014)

Rey, Urs: Ersatzneubau von Wohnungen immer wichtiger. Wohnbautätigkeit und bauliche Verdichtung im Kanton Zürich, in: statistik.info 03/10 (2010)

Voswinkel, Stephan: Kundenorientierung, in: Bröckling, Urlich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Berlin 2004, 145–151