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Energieausweis
Markus Lammert
1.
„Weiser Verbrauch ist eine schwierigere Kunst als weise Produktion“,1 proklamierte John Ruskin schon im 19. Jahrhundert, zur Zeit der Industriellen Revolution, als die massenhafte Produktion und Nutzung der Ressource Energie in ihren Kinderschuhen steckte. Schon damals plädierte er für langfristige Lösungen und übte Kritik an Handlungsweisen, die sich ausschließlich am Gewinn orientieren. Heute ist die Diskussion um Energie eine der am intensivsten geführten Debatten unserer Zeit. Der Begriff Energiewandel beschreibt den Versuch, eine Energieversorgung nach den vage definierten Richtlinien der Nachhaltigkeit zu konstituieren.
(Nachhaltiges Bauen)
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2.
An den Universitäten führender Industrienationen emergierten in den letzten drei Jahrzehnten neue Wissenschaftszweige, die den Begriff Umwelt thematisieren.2 Diese Umweltwissenschaften legen die theoretischen Grundlagen für Umweltschutzstrategien. Der Energieausweis ist ein nationales Bewertungssystemen zur Klassifizierung von Gebäuden. Durch die Vorlagepflicht wird er zu einer politischen Regulative. Die Bewertung erfolgt nach den Richtlinien, die von diesen umweltwissenschaftlichen Disziplinen vorgegeben werden.
3.
Wichtige Ereignisse, die zur Entstehung von staatlichen Eingriffen zu einer Verbesserung der Ressourcennutzung führten, lassen sich zurückverfolgen zu den Energiespargesetzen nach den Ölkrisen in den 1970er Jahren. Weitere Meilensteine waren im Jahr 1992 die Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro, bei der die Agenda 21 etabliert wurde, ein Leitpapier zur nachhaltigen Entwicklung, sowie der Weltklimagipfel in Kyoto, der fünf Jahre später stattfand und bei dem Beschlüsse zum Emissionsrechtehandel gefasst wurden.
4.
Der Wortteil Ausweis lässt sich mit Wörtern wie Identitätsfestellung oder Personenkontrolle assoziieren und impliziert, dass derartige Kontrollmechanismen auch für Gebäude gelten. Warum werden Begriffen verwendet, die mit disziplinierenden Machtstrukturen in Verbindung stehen? Welche Bedeutung hat es, dass eine staatliche Maßnahme, die Ziele der Umweltbewegung umsetzen will, Energieausweis genannt wird und nicht etwa Energiebilanz oder Energieklassifizierung?
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5.
Geschichtlich kann der Begriff des Ausweises bis in das Mittelalter zurückverfolgt werden, aber „die Geschichte des Passes ist auch die Geschichte des modernen Staates.“3 Die Entwicklung von Ausweisen wurde entscheidend durch die Französische Revolution geprägt. Das Verständnis vom neuen Staatsbürger führte zu erheblichen Änderungen in der Systematik des Ausweisens. „Der moderne Staat wollte seine eigenen Subjekte erkennen, überwachen und kontrollieren“.4 Die Ausweitung der Anwendung von Ausweisen ist in der Moderne ständig fortgeschritten. Heute ist ihre Nutzung omnipräsent, nicht mehr auf staatliche Institutionen beschränkt und es werden zunehmend biometrische Daten gesammelt. Die Verwendung von Ausweisen dient der Zugangskontrolle und reguliert damit die Bedingungen von Inklusion oder Exklusion. Dazu müssen Normen festgelegt werden, die bestimmen, wer zugehörig ist und wer nicht. In seinem Buch „Wahnsinn und Gesellschaft“ erforscht Michel Foucault die Mechanismen der Aussonderung von abweichender Norm in rational aufgeklärten Gesellschaften. „Der Wahnsinn als das ‚Andere der Vernunft‘ werde von dieser ausgegrenzt und zum Schweigen gebracht und komplexen Prozeduren rationaler Kontrolle und Disziplinierung ausgesetzt.“5
6.
Foucault beschreibt Techniken, mit der nicht Personen, sondern die ganze Bevölkerung kontrolliert werden, mit dem Begriff der Bio-Macht.6 Hierbei wird das Individuum durch Regulation von Grundbedürfnissen kontrolliert. Reguliert werden insbesondere die Bereiche der Fortpflanzung, der Geburten- und Sterblichkeitsrate, des Gesundheitsniveaus und, wie es beim Energieausweis der Fall ist, der Wohnverhältnisse.
Die Anwendung dieser biopolitischen Macht erforschte Foucault mit dem Begriff der Gouvernementalität. Es beschrieb die Vorgehensweisen von Regierungen und dabei nicht nur die Staatspolitik, sondern diverse Kontrolltechniken, von individueller Selbstkontrolle bis zur biopolitischen Kontrolle über eine ganze Bevölkerung. Er selbst sagte: „Wir leben im Zeitalter der Gouvernementalität“7
(Smart City, Abs. 9)
7.
Der Politikwissenschaftler Timothy Luke erweitert Foucaults Untersuchungen zu den Begriffen Biomacht und Gouvernementalität und führt die Begrifflichkeit der Grünen Gouvernementalität oder Ökogouvernementalität ein. Luke stellt die These auf, dass Universitätsprogramme professionelle technische Experten ausbilden, die in Lehre und Forschung Diskurse über die Natur konstruieren und mit diesem Öko-Wissen performative Disziplinarsysteme von Geo-Macht generieren, um über Führungsstrukturen Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft zu nehmen.8 Dieser Prozess basiert auf Foucaults Idee, bei der es keine mögliche Ausübung der Macht geben kann, ohne einen gewissen Diskurs der Wahrheit.9 Eine Wahrheit, die von gut ausgebildeten, informierten und fokussierten Fachkräften propagiert wird. Luke vergleicht das Naturschutzmanagement der Umweltwissenschaften mit Polizeiarbeit.10
8.
Die Energiepolizei kommt, um den Energieausweis des Gebäudes einzusehen. Diese vermenschlichte Betrachtungsweise, bei der das Gebäude einen Ausweis benötigt so wie wir Staatsbürger, liegt nahe. Selbst die Konnotationen zu Kontrolle, Verbrechen und Strafe scheinen nicht zu stören. Solange es um Maßnahmen geht, die den Umweltschutz betreffen, scheinen alle Mittel recht.
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9.
Die unkritische Bewertung und Akzeptanz, die der Energieausweis in der Öffentlichkeit erfährt, deckt sich mit der Aussage des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek, der nicht ausschließt, „dass die Ökologie […] eine Art neues Opium des Volkes werden kann“11. In der Politik gibt es heute einen überparteilichen Konsens zur Förderung von Nachhaltigkeitskonzepten. Dabei steht die Optimierung nach Schwerpunkten der Wirtschaftlichkeit im Fokus. Das wird beim Energieausweis besonders deutlich, denn die Regeln von Wirtschaftlichkeit überwiegen erheblich jene der ökologischen Erhaltung. Es geht nicht um Verzicht oder Vermeidung von Energieaufwand, sondern um den Umgang mit Energieverbrauch (Performance, Abs. 5). Dabei ist zweifelhaft, ob eine effizientere Nutzung von Energie auch zu einem Rückgang der Energieverbrauchs führt. Das Jevons’ Paradoxon, in den Wirtschaftswissenschaften heute bekannter als der Rebound-Effekt, wird von den Befürwortern von staatlichen Eingriffen geleugnet. Es besagt, dass effizientere Ressourcennutzung zu erhöhtem Energieverbrauch führt.
10.
Das bedeutet, dass Standards, die durch den Energieausweis etabliert werden, zusätzliche Umweltprobleme schaffen anstatt sie zu beheben. Der Energieausweis fördert kurzsichtige Lösungen und legt einen Schwerpunkt auf Gewinn und Effizienz. Er müsste vielmehr dazu beitragen, Ressourcen zu schützen und den Energieverbrauch zu verringern. Er müsste die Energie berücksichtigen, die bei Produktion, Aufbau, Rückbau, Lieferung und Erhaltung der verwendeten Baumaterialien anfallen. Also die versteckte Energie, die man unter dem Begriff Graue Energie zusammenfasst. Keine Beachtung schenkt der Energieausweis in seiner Bilanzierung der zeitlichen Nutzungsdauer eines Gebäudes und alternativen Techniken zur Energieeinsparung, wie zum Beispiel der Nutzung direkter solarer Einträge oder passiver Lüftungskonzepte. Besonders deutlich wird die Wirkungslosigkeit des Energieausweises bei der Verwendung von thermoplastischen Dämmstoffen. Das Aufkleben von Wärmedämmungen auf die Fassade erhält Förderung, anstatt die Nutzung von recyclefähigen Materialien mit niedrigen primären Energieinhalten zu bevorteilen (Green Architecture, Abs. 8).
11.
Der Energieausweis will dazu beitragen, Energie einzusparen, stattdessen werden durch ihn aber kontraproduktive Standards als nachhaltig-ökologische Wahrheiten konsolidiert und alternative Lösungsansätze als abweichende Norm unterdrückt.
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