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Urbane Begegnungszonen
Nikolina Curic

1.
Seit ihrer Fertigstellung im Frühjahr 2014 lese ich in den Zeitungen immer wieder über die neu gestaltete Mariahilferstraße in Wien. Immer wieder fiel bei Berichterstattungen und politischen Debatten der Begriff urbane Begegnungszone. Doch was ist eine urbane Begegnungszone eigentlich?

2.
Bis zum Zweiten Weltkrieg erfolgte der Straßenverkehr weitgehend unmotorisiert. Den überwiegenden Anteil der VerkehrsteilnehmerInnen stellten die FußgängerInnen, die sich - von einigen Verhaltensregeln abgesehen - frei im Straßenraum bewegen konnten. Mit der Massenproduktion von Automobilen, die diese für eine breite Bevölkerungsschicht erschwinglich machten, wurden umfassende gesetzliche Reglementierungen des Verkehrs und bauliche Veränderungen der Verkehrswege, die immer mehr und mehr Stadtraum beanspruchten, notwendig.

3.
Im modernen Städtebau wurden technischer Fortschritt und Geschwindigkeit gefeiert und – wie in der vom CIAM verabschiedeten Charta von Athen – zu einem Gestaltungsparadigma: Hochhausstädte sollten die alten, stickigen und wirren Strukturen ersetzen und Highways diese reinen Wohnquartiere auf Grund der geforderten Funktionstrennung mit den Arbeitsplätzen und Erholungsgebieten verbinden.

4.
Die Ideen des modernen Städtebaus sind inzwischen überholt. Es wird sogar wieder eine Ansiedlung der – inzwischen sauber gewordenen – Industrie in Wohnvierteln versucht, um Wohnen und Arbeiten enger zu verknüpfen und Wege noch kurz zu halten.
Diese kurzen Wege lassen Fortbewegungsarten abseits des Autofahrens wieder boomen. Was unter den deutschen Begriffen schon verstaubt klang, erfreut sich im neuen Sprachkleid allgemeiner Beliebtheit und sind Symbole des neuen Fitness-und-Öko-Bewusstseins: Sneaker, Bikes, Skates und Scooter (Nachverdichtung, Abs. 8).

5.
Indem sie den Langsamverkehr, also Gehen, Fahrrad fahren, Skaten und ähnliches neben dem motorisierten Individualverkehr und dem öffentlichen Verkehr zu einer gleichberechtigten dritten Alternative des Personenverkehrs entwickeln, möchten die schweizerischen VerkehrsplanerInnen zur Entlastung der Umwelt und Verbesserung des Verkehrssystems beitragen.
Langsamverkehr stärkt auch den „sanften“ Tourismus, weil es für den Besucher attraktiver wird, die Stadt zu Fuß zu erkunden – ganz nebenbei spart er sich dabei das Geld für Mietautos und Taxis (Nachverdichtung, Abs. 8).

6.
Ein Konzept des "Langsamen Verkehrs" im innerstädtischen Bereich ist die „Fußgängerzone“. In dieser haben FußgängerInnen Vorrang und es ist nur bestimmten Fahrzeugen für bestimmte Zwecke, zum Beispiel für Ladetätigkeiten, gestattet, die Fußgängerzone zu befahren.
Parallel zur Fußgängerzone wurden nach niederländischem Vorbild in mehreren Ländern verkehrsberuhigte Bereiche in Wohnsiedlungen – seit 1960 in Österreich unter der Bezeichnung „Wohnstraße“ bekannt – realisiert.
In Wohnstraßen ist das Betreten und Spielen auf der Fahrbahn erlaubt. Der sich in geringer Geschwindigkeit fortbewegende Fahrzeugverkehr darf aber nicht mutwillig behindert werden.1

7.
Um ähnliche Konzepte für den innerstädtischen Verkehr, wie das des „Langsamen Verkehrs“, bemühen sich die Verkehrs- und StädteplanerInnen seit einigen Jahren. So wurde das Konzept der „Flanierzone“ aus der verschlankten Wohnstraße entwickelt.
Mit der „Flanierzone“ wollen die PlanerInnen eine „light“-Alternative zur Fußgängerzone schaffen.
Geschichtliche Hintergründe dieser Flanierzone liegen in der Initiative des Schweizer Energiesparprogrammes „Energie 2000“.
In diesem Zusammenhang wurde die schweizerische Stadt Burgdorf 1995 als Paradebeispiel einer Fußgänger-Fahrrad-Stadt ausgezeichnet.

8.
Der Begriff „Flanierzone“ verwies auf den Raum zwischen der Straße und den sich dort befindlichen Gebäuden. Sie konnte vielfältig genutzt werden, zum Beispiel für den Außenverkauf, für Verkaufsstände und Werbungen. In der „Flanierzone“ gab es auch Parkplätze.
Eine „Zu- und Wegfahrt“ zu den Liegenschaften und Geschäften wurde ebenfalls problemlos gewährt. Des Weiteren sollte die „Flanierzone“ das Ortszentrum attraktiver machen und die PassantInnen zum Verweilen einladen (Performanz, Abs. 3).

9.
Aus den Flanierzonen entwickelten sich 2001 die urbanen Begegnungszonen. In Österreich verstehen wir unter diesen ein offizielles Werkzeug der Verkehrsgestaltung in den Gemeinden. Die Verkehrsfläche soll von allen VerkehrsteilnehmerInnen, ob FußgängerInnen, FahrradfahrerInnen oder AutofahrerInnen, benützt werden. Zudem soll sie den verkehrsdominierten öffentlichen Raum beruhigen und lebenswerter machen. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 20 km/h. Letztendlich ist der wesentliche Unterschied zwischen einer Fußgängerzone und einer Urbanen Begegnungszone der, dass in der Begegnungszone alle VerkehrsteilnehmerInnen am Verkehr teilnehmen dürfen. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Zufahrt zu Liegenschaften und Geschäften erlaubt ist und so zum Beispiel Ladetätigkeiten vorgenommen werden können.

10.
Urbane Begegnungszonen setzen auch das Konzept „shared space“ in die Praxis um. Das Wort prägte der Niederländer Hans Monderman noch in den 1990ern. Er war Verkehrsplaner und Lehrbeauftragter für Verkehrssicherheit. Seine Philosophie von „shared spaces“ beruht darauf, dass Kfz-dominierte Straßenbereiche qualitativer und sicherer gestaltet werden sollen.2

11.
In Österreich gibt es neben der urbanen Begegnungszone in der Wiener Mariahilferstraße auch realisierte Beispiele in Enns (2010) und Wels (2013).
Zuerst waren sich die VerkehrsteilnehmerInnen unsicher und sie verhielten sich, als gäbe es keine Veränderung, weil sie an die vorigen Verkehrsregeln gewohnt waren. Plötzlich gab es keine Verkehrsschilder und Ampeln mehr in der urbanen Begegnungszone. Auch wenn in diesem Falle die urbane Begegnungszone zu Beginn ihrer Eröffnung für Verwirrung gesorgt hat, bringt sie aber auch wesentliche Vorteile mit sich. Es gibt viel mehr Platz für die FußgängerInnen und Menschen mit Behinderung. Die Begegnungszone wirkt sich auch positiv auf die Umwelt aus, weil die Geschwindigkeit eingehalten wird und durch die Lärmminderung und Geschwindigkeitsbegrenzung mehr Lebensqualität und Sicherheit geboten werden.

12.
In Wien hat die neue Begegnungszone verschiedene Auswirkungen. Auf der einen Seite gibt es zufriedene VerkehrsteilnehmerInnen, die die neue Gestaltung der größten Einkaufsstraße begrüßen, weil sie sich durch die gesteigerte Rücksichtnahme sicherer fühlen. Andererseits gibt es auch scharfe Kritik seitens der LokalbesitzerInnen und GeschäftsführerInnen, weil sich durch die zeitlich beschränkten Ladezeiten und die geringen Park- und Halteplätzen, die Verkaufszahlen bzw. Umsätze vermindern.

13.
Als es in Burgdorf in der Schweiz zur Neueröffnung der Begegnungszone kam, präsentierten sich nicht nur die PlanerInnen, sondern natürlich auch die PolitikerInnen. Der Begriff wurde zu einem politischen Instrument, weil er modern, sozial und smart klingt – ein Begriff, gegen den niemand etwas haben kann. Hinter diesem Begriff urbane Begegnungszone steckt auch die Verbindung zum Lebensstil des Einzelnen. Der Begriff soll Positives und Gutes für den Bürger bzw. die Bürgerin ausdrücken, weil er durch das Wort „urban“ positiv konnotiert ist. Als „Urbanität“ bezeichnen wir heute das städtische Lebensgefühl und die Sozialstruktur.3
Wenn wir „urban“ hören, verbinden wir damit „städtisch“, „modern“, „zukunftsorientiert“ und „smart“. Zu Vermarktungszwecken wird mit dem Begriff „urban“ versucht, dieses gesteigerte, neue Selbstwertgefühl und die Handlungsfreiheit von Personen zu erreichen, damit diese einen „besseren“, „gesünderen“ und „neuen“ Lebensstil leben und sich vom Rest der Gesellschaft nicht ausgeschlossen fühlen, denn „Lifestyle“ bzw. Lebensstil ist ein gesellschaftlich geprägter Begriff vor allem im Sinne des „guten“, „gesunden“ und „modernen“ Menschen, und wer nicht mithalten kann, der besitzt keinen „Lifestyle“ bzw. gehört nicht „dazu“ (Third Space, Abs. 3, Abs. 6).

14.
Urbane Begegnungszonen decken viele in der heutigen Zeit geforderte Ziele eines gut strukturierten Verkehrssystems, wie Flexibilität, Verkehrssicherheit und Umweltschutz ab und können zukünftig als Lösung für vorhandene Problemstellen eine wichtige Rolle spielen. Jedoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass dieses Verkehrskonzept auch gezielt aus politischen und ökonomischen Gründen vermarktet wird, denn etwas „Neues“ und „Smartes“ kommt immer gut an – und von guter Publicity möchten viele profitieren.

1 … Vgl. Brunner/Maurer/Zimmeter 2008, 5.
2 … Vgl. Rasso 2009, 38.
3 … Vgl. Schäfer 2004, 36.

Literaturverzeichnis


Brunner, Peter/Maurer, Wolfgang/Zimmeter, Walter: Wohnstraßen. Prüfung der Zweckmäßigkeit – zwei Fallbeispiele aus Kufstein, Innsbruck 2008

Rasso, Bernhard: Shared Space - Öffentlicher Raum für alle. Eine Analyse anhand von Münchner Beispielen, Norderstedt 2009

Schäfer, Thomas: Urbanistik, Karlsruhe 2004

http://begegnungszonen.ch/home/geschichte.aspx, in: http://begegnungszonen.ch, 05.12.14

http://bve.be.ch/bve/de/index/mobilitaet/mobilitaet_verkehr/langsamverkehr.html, in: http://bve.be.ch, 05.12.14

http://derstandard.at/1376535048076/Mariahilfer-Strasse-Die-Begegungszone-ist-ein-Wahnsinn, in: http://derstandard.at, 05.12.14

http://dialog-mariahilferstrasse.at/ergebnisse/verkehrskonzept/, in: http://dialog-mariahilferstrasse.at, 05.12.14

http://jusline.at/76a_Fu%C3%9Fg%C3%A4ngerzone_StVO.html, in: http://jusline.at, 05.12.14

http://meinbezirk.at/enns/chronik/aus-ennser-zentrumszone-wird-begegnungszone-d792987.html, in: http://meinbezirk.at, 05.12.14

http://muensingen.ch/?redirect=getfile.php&cmd[getfile][uid]=545, in: http://meunsingen.ch, 05.12.14

http://stadtentwicklung.graz.at/cms/ziel/2858443/DE/, in: http://stadtentwicklung.graz.at, 05.12.14

http://wels.at/wels/page/679995597123214884_0_916783605355669962,de.html, in: http://wels.at, 05.12.14