http://minilexikon-architektonischer-modebegriffe.tugraz.at/files/gimgs/th-12_ineska.jpg

Nachverdichtung
Ineska Alibabic

1.
In den aktuellen Stadtentwicklungskonzepten, aber auch überall dort wo es um die Thematik der Urbanität geht, ist der Begriff Nachverdichtung ein regelmäßiger Bestandteil von Leitbildern, Vorträgen und Diskussionen.
Wenn Stadtsoziologen sich Gedanken darüber machen, wie Stadt und Gesellschaft miteinander interagieren, wenn aus wirtschaftlichen Interessen bestimmte räumliche Bereiche quantitativ erforscht werden, wenn über Konzepte von städtebaulichen Projekten und ihren Einflüssen auf die Gesellschaft und Umwelt diskutiert wird, insbesondere dort hört man den Begriff der Nachverdichtung.

Neuerlich betiteln Universitätsprofessoren zahlreicher deutschsprachiger Architekturfakultäten ihr Semesterthema mit dem Begriff und publizieren daraus resultierend Magazine und Bücher. Die ETH Zürich initiierte im Jahr 2007 ein Forschungsprojekt Chancen und Potenziale städtischer Dichte. Im September 2009 organisierte das Institut für Urbanistik in Berlin die Tagung Qualifizierte städtebauliche Dichte - Lernen aus neuen Stadtquartieren. Die TU Graz erreichte das Thema im Jahr 2013 am Institut für Gebäudelehre, das im Grazer Architekturmagazin GAM anknüpfend publiziert wurde. Seit den letzten Jahren erscheint die Buchreiche des spanischen Verlages at ediciones mit den Titel Density und zahlreiche weitere diskursive Dichteveranstaltungen in städtebaulichen Themenfeldern bestätigen das gegenwärtige Interesse an der Thematik.

Bestehende historische Aufarbeitungen veranschaulichen explizit, dass der Begriff nicht nur in den heutigen städtebaulichen Diskursfeldern, sondern bereits seit dem späten 19. Jahrhundert, auch in der Soziologie, Geografie und Nationalökonomie, hohe Präsenz erfuhr. Bis zum gegenwärtigen Verständnis des Begriffes lassen sich wichtige geschichtliche Bezugspunkte und Inszenierungen aus der Distanz betrachten.

2.
Mit der physikalischen Dichtedefinition von Isaak Newton, nämlich dem Quotienten aus Masse und Volumen, erfährt Dichte eine empirisch messbare Kenngröße. Im darauffolgenden 19. Jahrhundert wurde der Begriff aus der Physik entnommen und in unterschiedlichen Fachbereichen als Hilfsinstrument verwendet, um beispielsweise das Verhältnis einer Anzahl von Menschen zu einer Flächeneinheit bezogen auf einem bestimmten Raum zu definieren, nämlich die Bevölkerungsdichte. Ziel für die Einführung der Bevölkerungsdichte war es, die Missstände in der bestehenden Stadt der Industrialisierung zu erfassen, um damit eine bessere Grundlage für die zukünftige Stadt der Moderne aufzubauen.

Der anglikanische Pfarrer Thomas Robert Malthus vertrat in seinem Aufsatz The Principle of Population aus dem Jahr 1798 die These, dass spätere Heirat und Weiterbildung die Geburtenrate senken würden. Bei einer nicht kontrollierten Geburtenrate würden laut Malthus die Ressourcen und der Lebensstandard sinken. Diese Debatte führte zu der Definition der Bevölkerungsdichte als Einheit. Reinhard Baumeister bewertete 1911 Begriffe wie Wohndichtigkeit und Baudichtigkeit. Die hohe Dichte aus der bestehenden industrialisierten Stadt sei ungesund und zukünftige Konzepte sahen eine Verbesserung in der geringeren Dichte.1

3.
Zeitgleich mit der Auseinandersetzung über die Bevölkerungsdichte in der Nationalökonomie beschäftigen sich auch Geografen, Soziologen und Stadtplaner mit dem Begriff. Dichte wird zum Hauptthema der kartografischen Diskurse in der Geografie. An der Wende zum 20. Jahrhundert taucht in diesem Zusammenhang der Begriff der Volksdichte auf, der wiederum die Funktion des Quotienten übernimmt und das Verhältnis vom Volk zum Raum definiert. Die Codierung der Bevölkerungsdichte wurde einerseits im Malthus'schen Sinne als negative politische Grundhaltung assoziiert, auf der anderen Seite betrachteten Soziologen wie Emile Durkheim eine hohe Bevölkerungsdichte als etwas Positives, das den Antrieb für den gesellschaftlichen reformerischen Fortschritt symbolisierte.

Durkheim formulierte die moralische und materielle Dichte. Mit der moralische Dichte wird ein soziales Netz beschrieben, das dazu dienen soll, die Gesellschaft zu bündeln. Dagegen stellt materielle Dichte eher einen quantitativen und messbaren Charakter dar. Seine erste Dichtetheorie wurde von nachkommenden Soziologen fleißig weitertransportiert und zitiert, sodass ein Richtungswechsel und Widerruf der ersten Theorie in seinem späteren Werk Die Regeln der soziologischen Methoden unauffällig blieb.2

4.
Im städtebaulichen Diskurs erfährt Dichte beginnend mit dem 19. Jahrhundert akute Präsenz. Die als Vorläufer geltenden staatsrechtlichen Schriften des Freiherrn Lorenz setzten durch, dass Luft und Licht im Wohnbau im Gleichgewicht zur Bevölkerungsdichte stehen müssen und zählen zur Grundlagentheorie für das Wohnungswesen. Einer der ersten städtebaulichen Theoretiker war Reinhard Baumeister. Er beschrieb in seiner Schrift aus dem Jahr 1911, Stadt-Erweiterungen in technischer baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung, die hohe Dichte negativ in Hinblick auf Hygiene, Bodenspekulation und die soziale Entwicklung der Bevölkerung.

Hohe Dichte wurde danach über einen sehr langen Zeitraum, der weit in die 1960er Jahre läuft, negativ codiert und vertritt das Sinnbild des Übels und des städtischen Missstandes der unhygienischen, industrialisierten Stadt. Alternativ zur verschmutzten, überbevölkerten Großstadt wird, die reformerische Gartenstadtbewegung von Ebenezer Howard bahnbrechend. Port Sunlight hatte als Vorbildstadt einen prägenden Einfluss auf Ebenezer Howard. Im Jahre 1902 äußerte er sich dazu in seinem Buch Garden Cities of To-Morrow.

Drei Jahrzehnte später regelte der vierte CIAM-Kongress die Dichte erstmals durch Verordnungen und Gesetze. Neben der Bevölkerungsdichte wurde die bauliche Dichte als Verhältnis von Nutzfläche zur Grundstücksfläche reglementiert. Die Einführung der bauliche Dichte sollte als quantitatives Instrument zur Bekämpfung der Problematik in der industrialisierten Stadt beitragen. Zu differenzieren ist dabei, dass bauliche Dichte als ein reines quantitatives städtebauliches Instrument fungierte, dagegen ist die Bevölkerungsdichte vielmehr als Analysewerkzeug zu verstehen.3

5.
Diskussionen über die Bevölkerungsdichte finden sich auch in der nationalsozialistischen Raumplanung. Versucht wurde dort, die richtige Bevölkerungsdichte in ganzen Regionen, besonders in den okkupierten osteuropäischen Gebieten, diktatorisch zu reglementieren. Im Leitbild der aufgelockerten und gegliederten Stadt des deutschen Architekten und Stadtplaner Johannes Göderitz geht es vorrangig um die Auflösung der Stadt. Mit seinem bekanntesten Kampfslogan Volk ohne Raum alarmierte er zur Auflockerung. Nach dem Krieg wurde die nationalsozialistische Denkrichtung im städtebaulichen Diskurs nicht weiterverfolgt und es wurde auf die bauliche Dichte zurückgegriffen, jedoch flossen 1962 Ansätze aus der aufgegliederten und aufgelockerten Stadt in die Baunutzungsverordnung, als erstmals Obergrenzen für die bauliche Dichte definiert wurden, die bis heute beinahe unverändert in Kraft sind.4

Le Corbusiers Forderungen nach Licht, Luft und Sonne sind dagegen kontrastierend zum aufgelockerten Aufruf auf hygienische Bedürfnissen bezogen. Wohnungen sollen so ausgerichtet sein, dass sie von Morgen bis Abend mit Licht versorgt werden. Um 1900 wurde entdeckt, dass Sonnenlicht Bakterien tötet und die Medizin damit unterstützt. Nicht ohne Grund entwickelten sich Krankenhäuser und Sanatorien in den Folgejahren zu den markantesten Beispielen des solaren Bauens.5

6.
Der Aufruf zur aufgelockerten und gegliederten Stadt führte zum verschwenderischen Umgang mit grünen Flächen. Die Städte wuchsen in den folgenden Jahren nicht mehr im verdichteten Zentrum, sondern entfalteten sich zunehmend im suburbanen Gürtel. In den 1980er Jahren ließen sich daraus ableitend Problemviertel ablesen und beginnend mit den Achtzigerjahren fing die Neucodierung des Begriffes an. Aus ökonomischen und soziologischen Hintergründen beruhend, wurde die hohe Dichte erstmals als Verbesserungsmöglichkeit.

Als Erste beschrieb Jane Jacobs in Ihrem Artikel Downtown is for people aus dem Jahr 1958 die hohe städtische Dichte als positiv und legt damit den Grundstein für die Neucodierung der urbanen Dichte in den Achtzigerjahren. Metaphorisch betrachtet, versinnbildlicht hohe Dichte seit der Umwertung nicht mehr Missstände und Massenansammlungen, sondern verwandelt sich in einen Garanten ökologischer Stadtplanung. Rem Kohlhaas betrachtete beispielsweise 1977 in seinem Kultbuch Delirious New York die hohe Dichte und den revolutionären Stil der überbevölkerten Großstadt in einer künstlerischen Konzeption.6

Besonders umstritten ist zu dieser Zeit das Leitbild Urbanität durch Dichte. Die allgemein verbreitete Städtebaugeschichte berichtet, dass der Schweizer Ökonom Edgar Salin 1960 das Leitbild Urbanität durch Dichte zur Aufforderung nach hoher Dichte begründete. Genauere Untersuchungen zeigen jedoch, dass der Slogan in den 1980er Jahren erstmals aufgetaucht ist, um den sozialen Wohnbau der 1960er Jahre und den damit gekoppelten Geist der aufgelockerten und gegliederten Stadt mit geringen Dichtewerten zu kritisieren. Salin hat bei genauerer Betrachtung die Thematik nicht behandelt und es ist zweifelhaft, ob der Slogan als Leitbild diese städtebauliche Phase emblematisch transportieren kann. Die hohe Dichte wird seit der Neucodierung bis zum gegenwärtigen Diskurs wesentlicher Bestandteil des Urbanen und der zukünftigen europäischen Stadt.7

7.
Heute wird Dichte mit dem Begriff Nachverdichtung umhüllt. Das Wort Nachverdichten stellt dezidiert fest, dass es um ein Vermehren von Dichte geht und denunziert gleichzeitig ein Bauen im Bestand. Seit der Umweltdebatte in den 70er Jahren werden die ökologischen Aspekte vor allem in der europäischen Stadtplanung vermehrt gefordert. Mit Nachverdichtung wird überall dort argumentiert, wenn es darum geht, Erreichbarkeit zu verbessern, energieeffizienter zu bauen, Schadstoffausstöße zu minimieren oder öffentliche Infrastrukturen besser auszulasten. Die aus dem Hintergrund leuchtenden ressourcenschonenden und verkehrstechnischen Vorteile lösen umweltfreundliche Assoziationen aus und bewirken dadurch höhere Akzeptanz im Publikum. Nachverdichtung wird seit dem letzten Jahrzehnt in der ökologischen Stadtentwicklung mit allgemeiner fachlicher Übereinstimmung als Ziel angestrebt.
(Smart City / Nachhaltiges Bauen / Green Architecture)

8.
Die Auslastung der bestehenden Verkehrsinfrastruktur ist beispielsweise eines der Hauptziele, wenn es darum geht, Nachverdichtungskonzepte durchzusetzen. Inwieweit bereits bestehende Infrastrukturen belastbar sind und welche Eingriffe Nachverdichtung parallel in den geschichtlichen, und ökologischen Kreislauf des Bestandes einleitet, bleibt in heutigen Debatten noch unsichtbar. Die Stadt der kurzen Wege ist das Konzept der ökologischen Stadtplanung in der europäischen Stadt. Jedoch verdeutlichen die kurzen Wege nicht nur das nähere Zusammenrücken durch Nachverdichtung, vielmehr beziehen sie sich auf Verbesserungen der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur und die Entwicklung von neuen öffentlichen Linien, die engmaschiger an bestimmten Vertriebs- und Produktionsstandorten positioniert sind.

9.
Ein weitere aktuelle Frage lautet, ob das physische Verdichten dem Sinn von mehr Personen pro Quadratmeter gerecht werden kann. Denn Nachverdichtungskonzepte plädieren zur Funktionsdurchmischung und zu einem näheren Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen. An den zeitgenössischen Wohnbauten lassen sich bereits markante Schattenseiten ablesen. Die Praxis erweist häufige Überschneidungen, einerseits in der Akzeptanz von den Bewohnern, die vermehrt zu Bürgerinitiativen führen und andererseits sind es überwiegend Studierende und Berufsorientierte, die am nahen Zusammenleben im dichten Stadtgefüge aus sozialen Netzwerkgründen interessiert sind und den höheren Mietpreisen standhalten können. Aus solchen Gründen veranlassen Investoren, dass Wohnungen hauptsächlich mit einem oder zwei Zimmer entstehen. Für Familien mit Kinder sind größere Wohnungen mit einer höheren Zimmeranzahl in der Innenstadt kaum mehr erhältlich.

Wie Sozialleben und Lebensqualität in Städten durch ein näheres Zusammenrücken beeinflusst werden, wurde in Stadtforschungsprojekten für die Auszeichnung der Best Places analysiert. Barcelona wird beispielsweise als positive Fallstudie für den Vergleich herangezogen. Gemessen an der Einwohnerzahl pro Quadratkilometer zählt Barcelona zu den Städten von hoher Dichte, die unter den zehn Best Places auf der Welt mit hoher Lebensqualität aufgelistet ist und gleichzeitig einen Ausnahmefall verkörpert. Vielmehr schaffen es Städte mit einer relativ geringen Dichte, sich in die höhere Rangliste der besten Lebensorte zu positionieren. Am besten bewertet werden Städte mit ein- bis zweitausend Einwohner pro Quadratkilometer wie z.B. Helsinki. Zu den unbeliebtesten Orten zählen Teheran und Columbo, deren Dichte 10.000 Einwohner pro Quadratkilometer weit übersteigt.

Der Vergleich zwischen Barcelona und Columbo, deren Einwohnerdichte annähernd gleich ist, macht die These schwer belegbar, dass eine höhere bzw. niedrigere Dichte eine direkte Verbindung mit der Lebensqualität in einer Stadt bildet. Daraus resultierte, dass es nicht unmittelbar die Dichte ist, welche die besten Lebensorte auszeichnet. Gut bewertet wurden vielmehr Städte in nordeuropäischen Ländern, in denen das Einkommen gerecht verteilt ist und in denen die sozio-ökonomische Gleichheit der Einwohner zur Lebensqualität enorm beiträgt.8

10.
Anknüpfend zum Exkurs in das gegenwärtige praktische Forschungsfeld des Begriffes, gilt Dichte weiterhin als städtebauliches Planungsinstrument für den quantitativ fassbaren räumlichen Bereich und ist Bestandteil gesetzlicher Verordnungen. Wolfgang Sonne hinterfragt in seinem Buch Urbanität und Dichte von 2014 die quantitativ, mathematisch erfassbare Dichte als Instrument für die zukünftige Entwicklung im Städtebau kritisch: „Städtische Atmosphäre, städtische Schönheit, städtische Kultur sind ohnehin Aspekte, bei denen die Grenze mathematischer Beschreibbarkeit evident ist, ohne dass man ihnen ihren Anteil an einem umfassenden Verständnis von städtischer Dichte absprechen könnte.“ Deshalb soll laut Sonne nicht mehr die quantitative Dichte ausgebaut werden, stattdessen ist es effizienter, die qualitativen Phänomene der Stadt aufzugreifen und angemessen zu erfassen.9

Der geschichtliche Überblick zeigt die Komplexität der Dichtebegriffs und dass die allgemein gültige, quantitative städtebauliche Definition den Begriff Dichte nicht gänzlich umfasst.

So vergleicht Nikolai Roskamm die städtebauliche Dichte mit einem inhaltslosen Behälter, der erst mit einer beigefüllten Substanz funktioniert. Diese Inhaltslosigkeit unterscheidet Dichte von alle anderen zentralen Begriffen im Städtebau. Bei der Dichte fehlt die Programmatik, die andere zentrale Begriffe wie z.B. Ökologie bereits im Vorfeld implizieren. Dichte ist ein inhaltsleerer Begriff und kann mit bestimmten Wertvorstellungen beladen werden und diese emblematisch transportieren.10





1 Vgl. GAM: Dense Cities 2013.
2 Vgl. Roskamm 2011.
3 Vgl. Sonne 2014.
4 Vgl. GAM: Dense Cities 2013.
5 Vgl. Vom Sanatorium 2014.
6 Vgl. Sonne 2014.
7 Vgl. Roskamm 2011.
8 Vgl. GAM: Dense Cities 2013.
9 Vgl. Sonne 2014, 140.
10 Vgl. Roskamm 2011.



Literaturverzeichnis


Sonne, Wolfgang: Urbanität und Dichte im 20. Jhd., Berlin, 2014

Roskamm, Nikolai: Dichte, Bielefeld, 2011

GAM 08 (2013) Dense Cities - Architecture for Living Closer Together

Vom Sanatorium zum Zeilenbau: http://http://www.detail.de/architektur/themen/vom-sanatorium-zum-zeilenbau-000193.html , (Stand: 06.11.2014)


Göderitz, Johannes/Rainer, Roland/Hoffmann, Hubert: Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen, 1957

Durkheim, Emile: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt am Main, 1992

Boeddinghaus, Gerhard: Gesellschaft durch Dichte. Kritische Initiativen zu einem neuen Leitbild für Planung und Städtebau, Braunschweig, 1963

+