http://minilexikon-architektonischer-modebegriffe.tugraz.at/files/gimgs/th-22_01.jpg
Umzug des Gemeinschaftsgartens Rosa Rose (Video)

Urban Gardening
Bianca Hütter

1.
„Wir können hier bleiben, bis die Bagger kommen.“1
Der Vorstandsvorsitzende eines Nachbarschaftsgartens in Leipzig, Sven Riemer, ist sich dessen bewusst, dass sein Garten jederzeit von einem Bauprojekt verdrängt werden kann. Der Lindenauer Stadtteilverein in Deutschland pachtete 2004 ein braches Grundstück, das in Besitz eines privaten Investors liegt. Mittlerweile wird die Freifläche mit einem prächtigen Garten, Nachbarschaftsfesten sowie Handwerksaktionen bespielt. Sobald der Investor dieses Gebiet jedoch anderweitig bebauen möchte, wird der Gemeinschaftsgarten Geschichte sein. Zurück bleiben frustrierte Stadtbewohner, die den Luxus eines eigenen Gartens verloren haben. So ergangen ist es den Gärtnerinnen und Gärtnern des Nachbarschaftsgartens Rosa Rose in Berlin. Die Fläche wurde von den Investoren geräumt und die Akteure mussten mitsamt den Pflanzen auf ein anderes Grundstück ausweichen. Mit dem Kultivieren des Bodens und dem Einsetzen der Pflanzen musste wieder von Neuem begonnen werden.

2.
Der Begriff urban entstand im 18. Jahrhundert nach dem lateinischen Wort urbanus und bedeutet „vornehm, fein, gebildet“. Erst im 20. Jahrhundert wurde der Terminus urban im Sinne von „städtisch“ oder „für städtisches Leben charakteristisch“ verwendet.2 Der Begriff Urban Gardening beschreibt den Anbau von Lebensmitteln im innerstädtischen Bereich (als eine alternative Wirtschaftsform).

3.
Anfang des 19. Jahrhunderts lebte die Mehrheit der Bevölkerung am Land. Aufgrund der Industrialisierung verschlug es aber immer mehr Menschen in die Städte, da sie auf eine Arbeit und bessere Lebensumstände hofften. Mitte des 19. Jahrhunderts entstand die Schrebergartenbewegung. Daran kann man erkennen, dass die Idee von Gemeinschaftsgärten keine neue ist. In den dicht besiedelten Städten herrschten eine ungesunde Lebensweise und ein Mangel an Bewegung. Um dem entgegenzuwirken, wurden außerhalb von Städten Turnwiesen, vor allem für Kinder, errichtet. Schnell wurden diese Wiesen zu Flächen für die Lebensmittelproduktion weiterentwickelt. Die Menschen fanden sich in Vereinen zusammen und bewirtschaftete gemeinsam Obst- und Gemüseplantagen, vor allem auch im Ersten Weltkrieg.

4.
Schon in Zeiten der Krise oder der Kriege wurden Gemeinschaftsgärten von Verbänden oder Gemeinden zur Verfügung gestellt, um vor allem die arme Bevölkerungsschicht versorgen zu können. Ein konkretes Beispiel dafür ist die Stadt Genf zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die Mitte der Stadt wurde zu einem landwirtschaftlichen Gebiet erklärt. Die Regierung forderte die Bevölkerung auf, jede freie Fläche für den Anbau von Lebensmitteln zu nutzen. Die Stadt wollte unabhängig sein und ihre Einwohner selbst versorgen. Während des Nationalsozialismus sollten die Vereine, die nicht von der Stadt, sondern von den Bürgern entwickelt worden waren, von Kommunisten und Juden gesäubert werden, was jedoch nicht gänzlich gelang. Die Gartenanlagen waren zu dieser Zeit sehr unübersichtlich und die verfolgten Menschen konnten sich in ihnen verstecken und überleben. Bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war die Idee der Selbstversorgung sehr begehrt. Vor jedem Einfamilienhaus und jeder Reihenhausparzelle fand man ein Stück Garten, das für den Lebensmittelanbau genutzt wurde. Als die Wirtschaft sich von den Kriegen wieder erholt hatte, änderte sich das Verhältnis der Gesellschaft zum Garten. Die industrialisierte Landwirtschaft kann bis heute billige Nahrungsmittel herstellen. Die Bevölkerung hielt es nicht mehr für nötig, ihre Lebensmittel selbst zu produzieren.

5.
Aber warum sind die Projekte des Urban Gardenings in der heutigen Gesellschaft wieder so populär? Der wichtigste Indikator für die Beliebtheit des Urban Gardenings ist, dass die Menschen die Fähigkeit zur Selbstversorgung wiedererlangen möchten.
Es ist sehr bequem, dass man zu jeder Jahreszeit und saisonal unabhängig Nahrungsmittel erwerben kann. Was passiert aber, wenn Lebensmittel teurer werden, Löhne sinken oder Rohstoffe knapper werden? Genau aus dieser Angst entsteht vor allem bei der ärmeren Gesellschaftsschicht die Motivation, wieder selbst Nahrung anzupflanzen. Hinzu kommt noch, dass die meist reichere Bevölkerungsschicht ein größeres Umweltbewusstsein entwickelt hat und einen kleinen ökologischen Fußabdruck hinterlassen möchte. Der tägliche Energieaufwand, der für die Produktion und Verteilung der Lebensmittel benötigt wird, trägt stark zum weltweiten Treibhauseffekt und dem Ressourcenverbrauch bei. Die Lebensmittel müssen immer weitere Transportwege zurücklegen. Durch Urban-Gardening-Projekte wollen Städte den Transportweg und den Anbau von Nahrungsmitteln ‚sauberer’ machen. Genau deshalb trotzt man den jahrhundertelangen Gewohnheiten und zieht zum Lebensmittelanbau nicht mehr aufs Land. Man versucht freie Flächen in Städten zu bespielen, die womöglich auch noch inmitten eines belebten Viertels liegen. Hier stellt sich wiederum die Frage, wie ‚sauber’ Obst und Gemüse ist, das in Städten angebaut wird. Ist Nahrung, die in ländlichen Gebieten angebaut wird und zum Verkauf auf einem städtischen Bauernmarkt eine Stunde im Auto transportiert wird, nicht doch gesünder, als Lebensmittel, die direkt an einer stark befahrenen Straße angepflanzt werden?

Im Prozess der Popularisierung des Urban Gardening spielt vielleicht auch der wiedererlangte Gedanke der nachhaltigen Landwirtschaft eine Rolle. Im 18. Jahrhundert beschreibt der Begriff Nachhaltigkeit, wie ihn Carl von Carlowitz geprägt hat, dass man nur so viel Holz schlägern darf, wie im gleichen Zeitrahmen nachwachsen kann (Nachhaltiges Bauen, Abs. 2). Wenn man dieses Prinzip auf den Nahrungsmittelanbau übertragen würde, könnte die heutige Überproduktion von Lebensmitteln und die damit verbundenen Umweltbelastungen eventuell verringert werden. Je mehr Urban-Gardening-Projekte in Städten initiiert werden, desto weniger Menschen kaufen vor allem in den Sommermonaten in Supermärkten ein, welche ihre Lebensmittel meist aus fernen Ländern importieren. Wenn man selbst Obst und Gemüse anpflanzt und wachsen sieht, entwickelt man ein besseres Bewusstsein für Nahrungsmittel. Man erkennt den Qualitätsunterschied zur Supermarktware und lernt die Produkte mehr zu schätzen. Lebensmittel, die man kauft, wirft man mit einem nicht so schlechten Gewissen weg, als Obst und Gemüse, das man selbst zieht.

6.
Zu Urban-Gardening-Projekten schließen sich oft mehrere Menschen zu Gruppen zusammen, um Lebensmittel anzubauen. Ganz im Gegensatz zum Trend der Individualisierung, der dem einzelnen Individuum die Verantwortung zuspricht, benötigt man für den Aufbau eines Gemeinschaftsgartens ein Kollektiv. Dieses Kollektiv pflanzt, pflegt und erntet seine eigenen Lebensmittel. Die bevorzugten Gartenflächen liegen vor der Bepflanzung meist brach und werden durch die Inbesitznahme der jungen Gärtnerinnen und Gärtner aufgewertet. In der Regel wird die zur Verfügung stehende Freifläche in Parzellen aufgeteilt und von einer Person oder einer kleinen Gruppe bewirtschaftet. Urban Gardening wertet heruntergekommene Stadtviertel auf. Die Regierung nutzt das Engagement der Gärtner und Gärtnerinnen und die entstandenen verschönerten Freiflächen aus, um Investoren für Bauprojekte anzulocken. Dieser Prozess führt oft zur Gentrifizierung dieser Stadtgebiete und die Gemeinschaftsgärtnerinnen und -gärtner werden vertrieben, weil die Wohnungen nur mehr für wohlhabende Bevölkerungsgruppen leistbar sind.

7.
Urban Gardening reicht von Gemeinschaftsprojekten, die von der Stadt unterstützt werden, bis hin zu illegal in Besitz genommenen Freiflächen. Ob bei diesen geförderten Projekten aber wirklich das Wohl der Bürger im Vordergrund steht, kann bezweifelt werden. Immerhin darf die Regierung Regeln für die Bepflanzung der Gemeinschaftsgärten aufstellen, wie zum Beispiel, dass keine Bäume in diesen Gebieten gepflanzt werden dürfen. So kann das Stadtbild beeinflusst werden und die Freiheiten der Gärtner und Gärtnerinnen werden eingeschränkt.

8.
Illegale Inbesitznahmen entsteht oftmals aus einer politischen Motivation heraus und werden Guerilla Gardening genannt. Nicht zu bestreiten ist, dass Stadtbilder durch Gemeinschaftsgärten aufgewertet werden und dadurch viele Urban-Gardening-Projekte von der Stadt unterstützt werden. Vor allem in Gebieten im städtischen Raum, welche von der Schrumpfung bedroht sind, werden Gartenprojekte entwickelt, um diese Räume zu beleben (Raumaneignung, Abs. 9). Es ist jedoch nicht so einfach, jahrelang brachliegende Flächen für den Nahrungsmittelanbau zu kultivieren. Obst und Gemüse benötigt einen gewissen Boden und Mikroorganismen, um wachsen zu können und dazu muss man der Natur viel Zeit geben. Ob die Regierung die Geduld aufbringen kann und der Natur die Zeit, die sie benötigt, geben will, ist zu bedenken. Um dem Problem des ‚Wartens‘ ein wenig entgegenzuwirken, könnten in der Stadtplanung schon im Vorhinein Orte für Gemeinschaftsgärten festgelegt werden. Man könnte auch Flächen, die sowieso da sind, wie zum Beispiel Flachdächer, zum Zwecke der Allgemeinheit als Gartenflächen freigeben.

9.
Urban Gardening kann der Bevölkerung einen Platz für Integration, der Gemeinschaft und der bedingten Selbstversorgung bieten. Wenn die Flächen jedoch für Bauprojekte benötigt werden, können Gemeinschaftsgärten und die harte, oft jahrelange Arbeit der Gärtner und Gärtnerinnen von einem Tag auf den anderen zerstört werden.

1 … Müller 2012, 173.
2 … Vgl. Duden 2006, 883.

Literaturverzeichnis

Alsleben, Brigitte: Duden. Das Herkunftswörterbuch, Mannheim u.a. 42006
 

Müller, Christa (Hg.): Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt, München 52012

Ernewein, Marion: Framing urban gardening and agriculture. On space, scale and the public, in: Geoforum 09 (2014), Online unter: http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S001671851400150X, 21.10.2014

Linn, Karl: Issue 1: Community Revitalization, in: New Village Journal. Building sustainable cultures (2009), H.1, Online unter: http://nccommunitygarden.ncsu.edu/Karl-Linn-ReclaimingTheSacredCommons.pdf, 14.11.2014

N. N. (25.10.2012): Geschichtsschreibung, http://www.rosarose-garten.net/de/historiographie, in: http://www.rosarose-garten.net, 23.01.2015

Sound: Operette Nr. 39 von Gustav Lange