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Raumaneignung
Maximilian Schade
Die offenen Räume stehen für eine offene Stadt, in die es viele unterschiedliche Gruppen zieht. Die generelle Offenheit räumlicher Strukturen sowie die Möglichkeit zu deren Aneignung scheinen demnach die eigentlichen Triebfedern einer alternativen Stadtentwicklung zu sein, die menschliches Handeln in den Mittelpunkt stellt.1
2.
Die Kategorie des Raumes wurde lange Zeit einseitig betrachtet. Im Architekturdiskurs der Moderne wurde Raum als ein physisches, festes und unveränderliches Konstrukt gesehen. Der französische neomarxistische Soziologe Henry Lefebvre, einer der Väter der 68er-Bewegung, erweiterte im Zuge der gesellschaftlichen Umbrüche in den 1960er Jahren den Raumbegriff um eine soziale und eine geistige Komponente. In seinen Schriften kritisiert er die funktionalistische und fordistische Stadt der Nachkriegsmoderne. Ein Großteil des neu geplanten öffentlichen Raumes war für die Bewohner kaum nutzbar. Heute sind diese Flächen als Abstandsgrün verschrien. In der Stadtplanung wurden die Menschen auf bestimmte Maße und Eigenschaften abstrahiert. Da Architektur auf den standardisierten Menschen zugeschnitten wurde, verlor der öffentliche Raum zunehmend an Lebendigkeit und Vielfalt.
Lefebvre rief in seinem Buch „Le droit à la ville“ die Bewohner dazu auf, die undefinierten und standardisierten Stadträume neu für sich zu entdecken und mitzugestalten. In diesem Zusammenhang wurde das erste Mal von Raumaneignung gesprochen. Laut Lefebvre entsteht Raum erst durch die relationale Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an einem Ort. Ohne die Anwesenheit von sozialen Akteuren ist Raum nur eine leere, eigenschaftslose Hülle. Demzufolge ist Raum ein gesellschaftliches Produkt und wird durch soziale Akteure und deren Handlungen erzeugt. Diese Raumtheorie verändert in erster Linie das Denken über den öffentlichen Raum. Der Stadtraum erscheint ohne seine Bewohner nur als eine öde, nur physisch existente Wirklichkeit. Erst die Menschen erzeugen durch ihr tägliches Agieren eine lebendige und real existente Stadt (Third Space, Abs. 3,4).
3.
Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff Aneignung das Erwerben von herrenlosen Dingen oder Lebewesen. Zum anderen können auch immaterielle Güter, wie zum Beispiel Wissen, angeeignet werden. Im Bezug auf Raum spricht man von Aneignung, wenn leerstehende Gebäude oder Grundstücke unaufgefordert in Besitz genommen werden.
4.
Da den Begriffen Raum und Aneignung auf mehreren Ebenen Bedeutungen zugewiesen werden, müssen auch verschiedene Arten der Raumaneignung existieren. Man kann zwischen der materiellen und der immateriellen Raumaneignung unterscheiden. Aktuelle Beispiele für die physische, materielle Raumaneignung sind der Urbane Gartenbau, Veranstaltungen in ungenutzten Gebäuden und Hausbesetzungen. Hausbesetzungen erfolgen ohne Einverständnis des Eigentümers. Dieses Vorgehen verdeutlicht die Kritik der Akteure an den vorhandenen prekären räumlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Jedoch führen die Hausbesetzungen kaum zur Veränderung der indirekt kritisierten Umstände. Die handelnden Personen begeben sich oft in eine für sie positiv besetzte Parallelwelt, die meist durch eine Räumungsanordnung der Staatsgewalt aufgelöst wird. Anschließend können solche Vorfälle genutzt werden, um alternatives Gedankengut zu diffamieren und somit die festgefahrene konsum- und kapitalgesteuerte Gesellschaft als „alternativlos“ zu bezeichnen. Mit gesteigertem Partizipationswillen und einer besseren Vernetzung der alternativen Akteure können auch langfristige und bleibende Wohnprojekte entstehen. Aus der Hausbesetzerszene entstand in Deutschland Ende der 90er Jahre die nicht-kommerziell organisierte Beteiligungsgesellschaft „Mietshäuser Syndikat“. Gemietete oder besetzte Häuser werden hierbei von ihrer Hausgemeinschaft, mit finanzieller Unterstützung des Vereins, gemeinschaftlich erworben und dem Immobilienmarkt entzogen. Bis heute wurden 86 Hausprojekte verwirklicht und in Gemeineigentum überführt.
5.
Der materiellen Raumaneignung steht die subversive, immaterielle Raumaneignung gegenüber. Diese Betrachtungsweise baut auf der Raumtheorie Lefebvres auf. Durch soziale Interaktion und Präsenz in einem öffentlichen Stadtraum kann ein Ort temporär von einem oder mehreren Akteuren angeeignet werden. Raum kann bewusst verändert werden, in dem man versucht, bis dahin bestehende räumliche Strukturen zu erkennen, zu hinterfragen und aufzuheben. Die bestehende räumliche Wirklichkeit wird zweckentfremdet, neu definiert und schließlich zu neuen Strukturen zusammengesetzt. Die einfache Raumnutzung2 ist das Gegenstück zur Raumaneignung. Der Akteur hält sich unbewusst an das normative Regulationssystem von Räumen. Er ist Untertan von staatlichen und privaten Macht- und Überwachungsmechanismen. Vor allem privatisierter Raum ist meist nur für die bloße Raumnutzung vorgesehen. Ein Beispiel für die subversive Raumaneignung ist ortsspezifisches Straßentheater. Die Künstler setzen sich mit ihrer Performance über die existierenden Werte und Strukturen des öffentlichen Raums hinweg. Sie handeln bewusst gegen die bestehenden Normen und Regeln. Auch hier entsteht eine Parallelwelt, die aber für andere Menschen zugänglich ist. Die Zuschauer werden in das neu geschaffene Raumkontinuum hineingezogen und lernen eine andere neue Realität kennen. Sie werden dazu angeregt, ihre Alltagspraktiken zu hinterfragen, um anschließend neue Handlungsweisen zu entwickeln.3
6.
Jugendlichen und jungen Erwachsenen wird die Begabung zugesprochen, sich öffentliche Räume schnell anzueignen. Sie treffen sich häufig an nicht dafür vorgesehenen Orten im öffentlichen Raum, um soziale Kontakte zu knüpfen und Alkohol zu konsumieren. Bei Trendsportarten wie Skaten, Parkour, Crossgolfen und Planking wird der urbane Raum ebenfalls entfremdet und mit einer neuen Bedeutung aufgeladen.
7.
In unserer Gesellschaft werden Sicherheit und Ordnung große Bedeutung beigemessen. Auf das steigende Sicherheitsbedürfnis wird mit zunehmender Kontrolle des öffentlichen Raumes reagiert. Zum Nachteil der Freiheit und des Aktionsradius aller Akteure wird stetig für mehr Sicherheit gesorgt. Videokameras, selbsternannte Ordnungswächter und Fahrradpolizisten sind bekannte Elemente des Sicherheitswahns im öffentlichen Stadtraum. Wo alle widerrechtlich Handelnden eliminiert sind, werden sogar Fahrradfahrer und Bettler kriminalisiert. In Budapest ist seit 2012 Obdachlosigkeit illegal.
8.
Die fortschreitende Privatisierung von öffentlichen Raum in den Städten der westlichen Welt ist ein weiterer Prozess, der die Vielfalt und Lebendigkeit unserer Städte bedroht. In immer mehr Stadträumen unterliegt man dem Konsumzwang, in dem öffentliche Plätze von Kaffeehausstühlen und Werbetafeln besetzt werden. Nur wer konsumiert scheint eine Aufenthaltsberechtigung zu haben. Der kapitalschwache Teil der Bevölkerung wird langsam aus der Öffentlichkeit verdrängt (Vertical Public Space, Abs. 6,8).
9.
Seit der Jahrtausendwende formiert sich eine Gegenbewegung. Henry Lefebvres Theorien rücken wieder in den Mittelpunkt des urbanen Diskurses. Erneut wird proklamiert: Jeder hat ein Recht auf Stadt und kann sich öffentlichen Raum aneignen. Es wird vor allem in den schrumpfenden strukturschwachen Städten von Raumpionieren gesprochen, die sich in heruntergekommenen Stadtvierteln wertlose Häuser und Stadträume zu sehr billigen Mieten aneignen, um sie anschließend durch soziale und kulturelle Interaktion aufzuwerten.4 Eine materielle Wertsteigerung erfährt die Immobilie nicht. Die neue Bestimmung wird in den Bestand behutsam hineingeschrieben. Ateliers, Galerien, temporäre Restaurants, Gemeinschaftsgärten entstehen und steigern den immateriellen, kulturellen Wert des Stadtviertels. Dadurch werden die Gebäude wieder für die Kapitalerzeugungsmaschinerie interessant. Letztendlich wird das Grundstück oder das Gebäude von seinen kreativen Nutzern unfreiwillig befreit und kann an Investoren verkauft werden.5 In diesem Fall wird ein neomarxistischer Begriff für einen „alternativen“ Vorgang der kapitalistischen Verdrängungskette instrumentalisiert (Urban Gardening, Abs. 6 / Leerstandsaktivierung, Abs. 9).
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Literaturverzeichnis
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