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Mass Customization
Gunter Peyrl

1.
„Marketing-Charakter“ nennt der deutsch-US-amerikanische Psychoanalytiker Erich Fromm jene Menschen, die sich an der Meinung der Gesellschaft orientieren und ihren Selbstwert von dieser abhängig machen. Ich erinnere mich an die Szene aus „American Psycho“, wo Protagonist Patrick Bateman – dem Marketing-Charakter entsprechend – mit seinen Freunden im Büro sitzt und Visitenkarten vergleicht: knochenfarbiges Papier mit Schrift in „Silian Rail“. Nett, doch nichts im Vergleich zu David Van Pattens „Eierschale“ mit „Romalian Typo“. Aber warten Sie, das war doch noch gar nichts gegen Timothy Bryces „geprägte Buchstaben, Nimbus gebleicht“. Paul Allens bewunderte Visitenkarte – „zart gebrochenes Weiß“ in geschmackvoller Stärke und mit Wasserzeichen – bringt Bateman in Verlegenheit. Sein verletztes Selbstwertgefühl kompensiert er schließlich mit einem Mord.

2.
In einer von Konsumismus, also in einer von übersteigertem Konsumverhalten zum Zwecke des Strebens nach Identität, Lebenssinn und Glück geprägten Gesellschaft, ist die Steigerung des Sozialprestiges alles – wobei vereinzelt auch über Leichen gegangen wird.

3.
Stand die Industrialisierung des 20. Jahrhunderts weitestgehend im Dienste der gesellschaftlichen Entwicklung und der Deckung von durchwegs allgemeinen Grundbedürfnissen wie Ernährung (Urban Gardening, Abs. 4), Wohnung, Bekleidung, Mobilität sowie bestimmter Haushaltsgeräte und Möbel, so sind spätestens mit dem Übergang in das Informationszeitalter (Pop-up-Architektur, Abs. 4) in den 1990ern diese Grundbedürfnisse gedeckt und Individualität und Exklusivität das neue Maß aller Dinge. Die standardisierte Fließband-Massenproduktion, die einst Henry Ford reich und berühmt werden ließ, wurde in die Schwellenländer und „Dritte Welt“-Länder verschoben, denn sie kann die heutigen heterogenen, schnell wechselnden „Lifestyles“ nicht mehr bedienen. Im Postfordismus ist eine flexible Produktion nötig. Nur durch ständige Innovation von Gütern und lebenslangem Lernen kann mit der künstlichen Akzeleration der Bedürfnisse schrittgehalten werden.

4.
Wir, als vom Geltungskonsum getriebene Menschen, haben scharenweise Bedürfnisse – und die müssen gestillt werden. Durch „demonstrativen Verbrauch“ zeigen wir, was wir uns leisten können, festigen unsere Position in der Gesellschaft oder erobern uns eine neue, höhere Stellung. Wir machen uns wertvoll, indem wir uns mit Konsumgütern schmücken, die uns nicht dutzendfach begegnen, sondern unsere persönliche Eigenart spiegeln, unseren individuellen Bedürfnissen entsprechen – was in der Welt könnte interessanter, aufregender und besser sein als man selbst? Diese Produkte, die wir dem sagenhaften König Midas gleich zu Gold verwandeln, steigern unseren Marktwert ins Unermessliche. Doch dem Wunsch nach dem Einzelstück steht der wirtschaftliche Zwang zum Massenprodukt entgegen.

5.
Glücklicherweise können wir durch mass customization Massenprodukten den „golden touch“ geben. Mass customization, ein Oxymoron aus den beiden sich widersprechenden Begriffen „mass production“ und „customization“ (zu Deutsch „kundenindividuelle Massenproduktion“), ist der Trend des jungen Jahrtausends. Der Begriff – er wurde 1987 vom US-amerikanischen Unternehmensberater Stanley Davis in seinem New-Economy-Buch Future Perfect das erste Mal verwendet – birgt die Heilsversprechung in sich, dass jeder genau das bekommt, was er sich vorstellt: Individualität und Kreativität sollen kein Luxus, sondern für alle erreichbar sein.

6.
Das Zusammenspiel aus massenhafter und individueller Fertigung wird – nach dem Handwerk, den Manufakturen und der industriellen Massenproduktion – als Meilenstein der Evolutionsgeschichte der Fertigung gesehen. Mass customization ist eine Antwort auf die zunehmende Heterogenisierung und Individualisierung der Nachfrage, die industriell selbst mit Varianten-Fertigung nicht gestillt werden kann. Voraussetzung für die Entstehung von mass customization war das Informationszeitalter, das Kunden und Industrie mit den Möglichkeiten ausstattete, die Menschheit in das nächste Level zu katapultieren: Mit Hilfe computergestützter Produktionsverfahren und digitaler Kommunikationstechnik können Akteure und Systeme spielend leicht interagieren.

7.
Die „Computerisierung“ (Parametrismus, Abs. 2) ändert nicht nur die Designprozesse, indem sie mittels CAD-Systemen Designer, Fachleute und Verbraucher vernetzt. In die Entwürfe selbst kann durch generative Algorithmen und parametrische Modelle jederzeit eingegriffen, können verschiedene Alternativen parallel ausprobiert und eventuelle Probleme behoben werden. Diese flexible, sich an verändernden Umständen anpassende Art des Entwerfens wirkt sich auf die Herstellung der dabei entstehenden Produkte, die nun keinem Standard mehr entsprechen, aus: Es bedarf eines individualisierten Produktionsverfahrens, ohne dabei ins Luxus-Preissegment zu fallen.

8.
In den letzten Jahren setzte daher eine sprunghafte Zunahme von computergestützten Bau- und Produktionsprozessen ein: Mass customization, die sich beispielsweise in der Bekleidungsindustrie bereits durchgesetzt hat, kann nun auch in der Architektur Fuß fassen. Industrieroboter, wie sie am „Institut für Technologie in der Architektur“ an der Architekturfakultät der ETH Zürich eingesetzt werden, ermöglichen die automatisierte Errichtung von „non-standard“-Ziegelwänden aufgrund von digitalen Daten. Freiformen sind so exakt ausführbar und ersetzen das zeit- und kostenintensive Maurerhandwerk.1

9.
Die von UNStudio entworfene „Mercedes-Benz Welt“ in Stuttgart, in deren Fensterbändern 1.800 unterschiedliche Scheiben2 verbaut sind, ist eines der herausragenden Beispiele parametrischer Planung in neuerer Zeit. Nun ist die Daimler AG, eines der erfolgreichsten Automobilunternehmen der Welt mit einem Umsatz von knapp 118 Milliarden Euro (2013),3 nicht unbedingt auf die kostengünstige Herstellung individueller Glasscheiben angewiesen und wäre vermutlich auch mit Scheiben zufrieden, bei denen jede einzelne in einem aufwändigen Verfahren per Hand gegossen, zurechtgeschnitten und liebevoll poliert werden müsste. Die Mercedes-Benz Welt als „signature building“ (Parametrismus, Abs. 3) – ein Bauwerk, das vom Betrachter automatisch mit der Marke verknüpft wird – ist sowieso für Daimler einmalig und die Verwendung von mass customization in diesem Zusammenhang beinahe falsche Bescheidenheit.

10.
Sinn macht mass custumization dort, wo Massen Gleichartiges erträumen und ihr Eigen nennen wollen: ein Einfamilienhaus im Grünen zum Beispiel. Individuell entworfene „Architektenhäuser“ waren lange Zeit das Privileg einer kleinen Oberschicht. Heute ermöglicht mass customization dem Eigenheimbau für eine breit angelegte Mittelschicht eine nie dagewesene Individualität.4

11.
Ziel der kundenindividuellen Massenproduktion ist nach dem US-amerikanischen Unternehmensberater Joseph Pine die Produktion von Gütern und Leistungen „with enough variety and customization that nearly everyone finds exactly what they want“.5 Diese Definition lässt verschiedene Produktionsverfahren (Einzelanfertigung, modulare Fertigung oder Standardproduktvariationen) zu, denn wesentlich ist es, dass das Produkt in den Augen des Kunden individuell ist.6 Der Herstellungsprozess geschieht mit der Effizienz einer vergleichbaren herkömmlichen Massenproduktion: Nur so kann ein für die Masse erschwingliches Produkt geliefert werden. Durch den Einsatz der Techniken der Massenproduktion, wie etwa maschinelle Fertigungsstraßen mit entsprechenden Kapazitäten, können die Kosten der individuell produzierten Güter niedrig gehalten werden. Diese Kosten sind im Vergleich zu Standardprodukten gleich oder geringfügig höher und außer Konkurrenz zu jenen der Anfertigung in Einzelproduktion.

12.
Entscheidet sich ein Kunde für ein individuelles Massenprodukt, muss er zunächst Zeit und Aufwand investieren. Er muss sich darüber im Klaren sein, wie seine Bedürfnisse aussehen und mit welchen Konfigurationen diese gestillt werden können. Dieser Vorgang wird vom Kunden jedoch nicht als notwendiges Übel angesehen, sondern führt zu einem „pride-of-authorship“-Effekt. Die Begeisterung des Kunden, selbst etwas geschaffen zu haben, ist schon allein wertstiftend.7

13.
Durch diesen intensiven Individualisierungsprozess im Vorfeld der Produktion, der zumeist eine persönliche Interaktion zwischen Hersteller und Kunden voraussetzt, entsteht eine starke Kundenbeziehung, was von manchen als das wichtigste Kapital jeder Unternehmung angesehen wird.

14.
Die aus Holz gebaute, mit Ziegeln gemauerte oder in Beton gegossene Individualität in den „Traumhauskatalogen“ und Speckgürteln der Städte ist relativ monoton. Es scheint, als würde die immerwährende Reproduktion bestimmter „Images“ in Magazinen wie „Schöner Wohnen“, „Hausbau“ und wie sie noch alle heißen mögen, zu einer standardisierten Vorstellung vom Eigenheim führen. So ist der Wunsch der Bauherren nach Individualität mit der Auswahl aus einer Handvoll „Lebensstilen“, die von „klassisch traditionell“ bis „südlich mediterran“8 reichen, abgehakt. Mass customization hat in der Baubranche das Potential jeden erdenklichen Entwurf in gebaute Wirklichkeit umzusetzen – das lässt sich gut vermarkten. Besonders erfreulich ist es aber, wenn dieses Versprechen bereits durch „individuelle“ Planung, die „vom heimischen Landhaus bis zum modernen Bauhaus“9 reicht, erfüllt werden kann.

15.
Mass customization klingt für Unternehmer verlockend – die deutsche Bundesregierung sieht sie als wesentlichen Bestandteil des Zukunftsprojektes Industrie 4.0 an. Mass customization macht die industrielle Produktion nicht nur profitabler, weil der Kunde für die maßgeschneiderten Produkte bereit ist, mehr zu zahlen, sie wird auch „nachhaltig“ und „smart“, indem sie Ressourcen schont: Es wird nur auf Bestellung produziert und nicht nach gefühlter Marktlage; Überproduktionen gehören somit der Vergangenheit an. Durch die Nähe zum Kunden – das fertige Produkt kann sofort an den Kunden ausgeliefert werden – entfallen darüberhinaus die Kosten für aufwändige Lagerhaltung. Der Einzelhandel zeigt sich von mass customization weniger begeistert; kein Wunder, denn er wird dadurch überflüssig. Auf der Suche nach der passenden Hose benötigen wir durch das nächste Industrie-Update keine Ladentische mehr. Abverkäufe für nicht an den Mann gebrachte Waren sind sowieso passé.

16.
Aber was, wenn der Kunde nicht mitmacht? Der Prozess der Individualisierung kann, wenn er nicht behutsam vom Unternehmen begleitet wird, schnell zu Überforderung führen. Viele Pioniere der mass customization sind gescheitert. Der US-Turnschuhanbieter Customatix bot seinen Kunden 3.420.833.472.000.000.300.000 Kombinationsmöglichkeiten zur Kreierung eines individuellen Paares Schuhe an.10 Bei so viel Individualität kann ein Unternehmen nur schwer eine unverwechselbare Marke generieren, mit der es sich am Markt positioniert.

17.
Wenn Sie jedoch zu den begeisterten Mass-Customizern zählen, wünsche ich Ihnen viel Freude und ein starkes Ego, wenn Sie das nächste Mal mit Ihrer Familie am Frühstückstisch sitzen und Ihr via Internet bestelltes kundenindividuell-massenproduziertes Müsli vergleichen, denn beim Anblick des knusprigen „Crunchy and Oat“, verfeinert mit „Quinoaflocken“ und extra vielen „Banana-Chocs“, kann Ihnen schon mal der Löffel aus der Hand fallen.

1 Vgl. BerührungsPUNKTE (o. J.).
2 Vgl. Frogier de Ponlevoy 2006.
3 Vgl. Daimler AG 2014.
4 Vgl. Grill 2013.
5 Pine 1999, 44.
6 Vgl. Piller 2006, 159.
7 Vgl. Piller 2006, 120.
8 Baumeister-Haus Kooperation e.V. .
9 Fertighaus Weiss GmbH.
10 Vgl. Sturm 2005, 47.

Literaturverzeichnis

Baumeister-Haus Kooperation e.V. (o. J.): Ihr Lebensgefühl - Ihr Zuhause, http://www.baumeister-haus.de/lebensstile.html, in: www.baumeister-haus.de, 13.11.2014

BerührungsPUNKTE (o. J.): Die Parametrisierung der Architektur. Aufbruch an den Hochschulen, http://beruehrungspunkte.de/2010/11/01/die-parametrisierung-der-architektur/, in: www.beruehrungspunkte.de, 12.11.2014

Daimler AG (2014): Daimler Geschäftsbericht 2013, http://www.daimler.de/Projects/c2c/
channel/documents/2432178_Daimler_
2013_Geschaeftsbericht.pdf
, in: www.daimler.de, 13.11.2014

Fertighaus Weiss GmbH (o. J.): Das Weiss Versprechen, http://www.fertighaus-weiss.de/de/unternehmen/weiss-versprechen.php, in: www.fertighaus-weiss.de, 13.11.2014

Frogier de Ponlevoy, David (17.05.2006): Neues Mercedes-Benz-Museum: Wo Mythen tüten, http://www.spiegel.de/auto/werkstatt/neues-mercedes-benz-museum-wo-mythen-tueten-a-416391.html, in: www.spiegel.de, 08.11.2014

Grill, Julia (16.08.2013). Mass customized oder von der Stange: Wie viel Individualität verträgt Architektur?, http://www.schueco.com/web2/de/architekten/magazin/in_der_diskussion/
mass_customized
, in: www.schueco.com, 13.11.2014

Piller, Frank: Mass Customization. Ein wettbewerbsstrategisches Konzept im Informationszeitalter, Wiesbaden 2006

Pine, B. Joseph: Mass Customization: The New Frontier in Business Competition, Cambridge 1999

Sturm, Dominic: Ich will mein Ich-Produkt, in: Hochparterre 18 (2005), H. 4, 46–47